zur Erinnerung

Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?

Als Mutti in den Westen ging: Die verlassenen Kinder der Einheit

Von Björn Strauss

MDR/Sachsen/Berlin - Unglaublich: Für ihr eigenes kleines "West"-Glück haben Eltern ihre Kinder im Osten zurückgelassen. Was das bedeutet, zeigt der MDR in einer Dokumentation.

Thomas Metz wurde 1989 als Fünfjähriger im Kinderheim abgegeben. Er erzählt, wie das war. © MDR

Es ist ein dunkles gesamtdeutsches Kapitel. Hunderte Kinder wurden im Osten zurückgelassen, weil Eltern in den Westen wollten.

Die Erzählungen machen betroffen: In Berlin lässt eine alleinerziehende Mutter ihre drei kleinen Söhne zurück, in dem Wissen, sie niemals wiederzusehen. Dem Achtjährigen schreibt sie noch einen Zettel, wie er die Vier- und Dreijährigen versorgen solle, legt Frühstücksbrote für den nächsten Tag hin und kommt nie wieder... Nur durch Glück können die Kinder auf sich aufmerksam machen, müssen mit teils schweren Befunden ins Krankenhaus.

Thomas Metz wurde 1989 mit fünf Jahren im Kinderheim abgegeben. In Originalaufnahmen von damals sagt er, seine Mutter sei im Urlaub. Heute, 31 Jahre später, weiß er: Seine Mutter war nicht im Urlaub, sondern hatte mit ihrem Freund im Westen ein neues Leben angefangen. Ohne ihn!

Die Bilder von damals - sie erschüttern noch heute. Dabei hatte Thomas Metz noch Glück. Er kam zu liebevollen Pflegeeltern und hilft als Suchttherapeut anderen Menschen mit schweren Schicksalen.

Die Filmemacher stoßen "über 30 Jahre später auf Wunden und Fragen, die nie geheilt und nie beantwortet wurden", so der MDR zu der bewegenden Doku.

"Als Mutti in den Westen ging" erzählt eindringlich über zahlreiche zu tiefst berührende Fälle über eine "nie öffentlich beleuchtete Kehrseite der Mauerfall-Euphorie".

Im Zuge der vielen Beiträge seit dem Sommer 2020 zu 30 Jahren Mauerfall berichtete der MDR schon einmal über das Schicksal von Kindern, die in den Tagen unmittelbar nach dem 9. November 1989 von ihren Eltern in der DDR im Stich gelassen wurden. Diese Fälle der "MDR Zeitreise" bewegten viele Zuschauerinnen und Zuschauer - lösten Mitleid und Verzweiflung aus. Das war der Grund für den MDR, weiterzuforschen und nun den zweiten Teil der Recherchen zu senden.


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Interview: Wie eine Heimleiterin das Trauma der Kinder erlebt hat

Wie Eltern ihre Kinder nach dem Mauerfall in der DDR allein zurückließen

Stand: 14. Dezember 2020, 09:24 Uhr

Es sind verstörende Erfahrungen, die die Heimleiterin Kristina Brandt nach dem Mauerfall im Herbst 1989 macht. Wie viele Ostdeutsche ist sie von dem Freudentaumel an den Grenzübergängen bewegt - doch gleichzeitig muss sie erleben, wie sich so manche Mitbürger, die dem Land den Rücken kehren, als Rabeneltern erweisen - sie lassen ihre Kinder in der DDR zurück. Manchmal wird der Nachwuchs sogar fast ohne Essen in der elterlichen Wohnung eingesperrt und seinem Schicksal überlassen.

Verlassene Kinder Traurige Wende-Schicksale von Kindern im MDR.
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, herrschte in der DDR Euphorie. Einige DDR-Bürger machten sich sofort auf in die Freiheit im Westen. Ihre Kinder störten sie dabei. Sie ließen sie einfach allein zurück - in Heimen, bei Freunden, bei Verwandten. Die meisten zurückgelassenen Kinder wurden nie wieder von ihren Eltern abgeholt. Sie wuchsen bei Pflegeeltern oder in Heimen auf. MDR ZEITREISE hat mit Kristina Brandt, der Leiterin des Erfurter Säuglingsheimes, gesprochen. Sie nahm damals fast 50 Kinder in ihrem Heim auf.

Kinder, die von ihren Eltern nach der Grenzöffnung zurückgelassen werden - das ist eigentlich eine unglaubliche Geschichte…

Ja. Man kann es tatsächlich kaum fassen. Man hat so etwas nicht für möglich gehalten. Ich bin selber Mutter. Sein Kind beschützt man lebenslang, und diese Kinder wurden einfach zurückgelassen. Und das Schlimme ist: Diese Eltern sind ja gegangen, weil sie ein besseres Leben wollten. Aber ihren Kindern haben sie zugemutet, da zu bleiben, wo sie nicht bleiben wollten.

Verlassene Kinder Kristina Brandt Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Haben sich die Eltern um ihre Kinder ab und an gekümmert?

Diese Eltern haben sich meist überhaupt nicht gekümmert. Die haben ja sogar noch Kindergeld bezogen, weil ja ihre Kinder im Ausweis standen. Aber die Kinder haben davon nichts gesehen. Manche teilten uns mit: Wir holen bald unsere Kinder wieder ab. Es kamen dann tatsächlich einige mit dem Jugendamt und holten ihre Kinder ab. Aber der größte Teil wurde nicht von den leiblichen Eltern abgeholt.

Wissen Sie, wie viele Kinder in der Zeit 1989 bis 1990 von ihren Eltern verlassen wurden?

Wir hatten allein in unserem Heim zwölf. Wenn ich drüber nachdenke, sehe ich sogar die Gesichter heute noch vor mir. In ganz Erfurt waren das schon bestimmt 50, schätze ich mal. Und es müssen Hunderte in der gesamten DDR gewesen sein. Da waren ja schon Schulkinder dabei, die dort abgegeben wurden und wo versprochen wurde, nächste Woche hole ich dich. Aber nichts ist passiert.

Kristina Brandt Kristina Brandt im Interview 2020. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Was glauben Sie, was war die Motivation dieser Eltern, ohne ihre Kinder in den Westen zu gehen?

Egoismus. Endlich kann ich was erleben. Die meisten dieser Eltern oder viele davon waren ja auch einfach gestrickt. Die haben hier in der DDR auch nicht viel geleistet. Aber jetzt haben sie gedacht, wir kriegen mehr Geld im Westen, auch ohne Arbeit. Und da waren ihnen die Kinder ganz egal. Die hatten vielleicht sogar gedacht, irgendwann hole ich die Kinder wieder ab. Aber dann ging es ihnen ganz gut, die haben ja auch in der BRD Geld bekommen, zum Teil ja auch Wohnungen. Manche haben vielleicht auch gearbeitet, aber die Kinder haben ihnen offensichtlich nicht gefehlt. Sonst kann man so etwas nicht tun.

Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wo lebten die Kinder später?

In Heimen oder bei Pflegeeltern.

Was hat das mit den Kindern gemacht?

Das ist ein sehr schwerer Verlust, der garantiert emotional, etwas Schlimmes bei den Kindern hervorgerufen hat. Fragen: Warum bin ich schuld? Was habe ich meiner Mama getan? Die größeren Kinder, mit denen konnten wir ja dann reden, dass man ihnen erklärt hat: Leider, deine Mutter kann nicht kommen, und wir müssen noch abwarten. Vielleicht schreibt sie bald. Aber mit kleinen Säuglingen kann man nicht reden, die kann man nur auf den Arm nehmen, trösten und dafür sorgen, dass sie gesund ernährt werden und dass sie Liebe bekommen. Und das haben wir getan.

Verlassene Kinder
Zurückgelassenes Kind in einem Heim

Und was hat es mit Ihnen persönlich gemacht?

Das war irgendwie auch eine schöne Zeit, weil wir etwas Gutes getan haben. Und da bin ich noch heute so stolz auf mein Personal, auf alle Hausmeister, Köche… Wir haben ja selber gekocht. Wir haben alles getan, damit die Kinder sich wieder besser fühlen. Und dann haben wir noch einen Schritt mehr getan. Denn wir haben ja dann, 1990, es geschafft, dass unser Heim verändert wurde. Als Pilotprojekt mit Frau Merkel, die damals Jugendministerin war. Wir haben es in kurzer Zeit geschafft, mit viel Geld und Spenden, ein Kinder-, Jugend- und Mütterheim aufzubauen, damit junge Mütter lernen, Verantwortung zu leben, und sie nicht nur auf dem Papier zu haben. Das war für mich ganz wichtig.


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Mauerfall 1989

Als Mutti in den Westen ging: Die verlassenen Kinder

von Adrian-Basil Mueller

Stand: 07. Dezember 2020, 15:55 Uhr

Verlassene Kinder Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

November 1989. Die Grenzen sind offen, die Freiheit ruft. Doch es gibt Mütter und Väter, die lassen ihre Kinder einfach zurück und bauen sich ohne sie ein neues Leben auf. Ein Schicksal, das in dem Jahr zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung wohl hunderte Kinder erleiden. Wie viele genau auf diese Weise ihre Familien verloren haben, kann heute keiner mehr ermitteln. Einige Kinder wurden von ihren Eltern im Heim abgegeben, andere einfach in der Wohnung zurückgelassen.

Das Kinderheim Makarenko in Berlin-Treptow ist wenige Wochen nach dem Fall der Mauer eine Auffangstation für Kinder, deren Eltern ihr Glück im Westen suchen. Zum Beispiel die von Mark. Die Mutter des Zweijährigen ist mit den drei Geschwistern fort. Für Mark war kein Platz mehr. Allein in Berlin sind es Anfang Dezember schon mehr als fünfzig solcher zurückgelassener Kinder. Sie feiern den ersten Advent im Heim.

"Mutti ist im Urlaub"

Verlassene Kinder Der kleine Steffen auf dem Arm der Heimleiterin Dr. Lisa Hörkner 1989 in Berlin: "Die Mutter ist ausgereist ohne ihre Kinder".
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Neben Mark gibt es auch Steffen, ein Jahr alt, der hier zusammen mit seiner zweijährigen Schwester untergekommen ist. Die Heimleitung berichtet damals dem Fernsehen: "Wir sind durch die Großmutter des Kindes informiert worden, dass die Mutter ausgereist ist ohne ihre Kinder. Es ist noch ein Geschwisterkind bei uns. Und sie hat sich bisher auch aus der Bundesrepublik nicht gemeldet."

In der ganzen DDR werden in dieser Zeit Kinder verlassen. Thomas wird in Erfurt abgegeben. Die Mutter beauftragte ihren Freund, den Jungen ins Heim zu bringen. Der setzt den Jungen der Heimleitung einfach auf den Schreibtisch. Dann ziehen beide in den Westen. Seit Wochen wartet der Fünfjährige nun auf seine Mutti. Seine Erklärung für das Verschwinden: "Meine Mutti, die ist im Urlaub."

"Man wurde quasi abgeschoben"

Einunddreißig Jahre später sieht Thomas Metz sich die Fernsehaufzeichnungen von früher mit seiner heutigen Familie an.

Verlassene Kinder Thomas Metz als fünfjähriger Junge im Heim. Wenige Monate später kam er zu einer Pflegemutter, die ihn aufzog. Er sagt über sie: "Meine Mutti ist die goldene Karte in meinem Leben."
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das fühlt sich heute noch total emotional an. Gerade, wenn man sich so als kleiner Junge hilflos die Treppen hochlaufen sieht und dann so eine Aussage trifft: Meine Mama ist im Urlaub. Und man weiß aus jetziger Sicht: So war es eben gar nicht. Man wurde quasi abgeschoben. Und das ist verblüffend zu sehen, wie schnell man das als Kind in so einer Notsituation auch glauben kann."

Heute ist Thomas verheiratet und selbst Vater von zwei Töchtern. Sein Glück war, dass er nach Monaten im Heim von einer Pflegemutter aufgenommen wurde. Ob er damals verstanden hat, dass seine Mutter ihn nicht mehr abholen wird? "Nein, das ist gar nicht mehr in Erinnerung. Ich habe die Dramatik das erste Mal realisiert, als ich mich eben im Film selber gesehen habe, und die Worte gehört habe: Meine Mama, ja, die ist im Urlaub. Erst da habe ich realisiert, was eigentlich los war."

Genaue Zahlen sind unbekannt

In den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer bis zur Wiedervereinigung Deutschlands waren hunderte Kinder allein und oft auch völlig unversorgt in Ostdeutschland zurückgelassen worden. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Doch weder Mark, noch Steffen, noch Thomas sind also Einzelfälle.

Verlassene Kinder Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nach dem Mauerfall im Herbst 1989 verlassen viele DDR-Bürger ihr Land. Einige von ihnen lassen ihre Kinder in der DDR zurück. Sie scheinen eine Last auf dem Weg in die neue Freiheit. Eine Heimleiterin erinnert sich.

Am vierzehnten November, gerade fünf Tage nach Öffnung der Grenzen, werden von der Volkspolizei drei Jungen im Alter von drei, fünf und acht Jahren allein in einer Wohnung in Berlin gefunden. Der Jüngste ist Martin. Seit er im Heim lebt, ist er still geworden. Er leidet am meisten unter der Trennung von der Mutter. Wie lange die Kinder allein waren, kann nicht mehr festgestellt werden. Irgendwann machten die Brüder auf sich aufmerksam - weil sie Hunger hatten. Der achtjährige Mark fühlt sich für die Geschwister verantwortlich.

Mutti ist Sonnabend halb zwölf losgegangen, und hat uns dann noch einen Zettel geschrieben. Und da stand drauf, wo die Sachen liegen und das sie uns was mitbringt. Sie hat uns noch ein bisschen Frühstück auf den Schrank gelegt. Das waren aber nur acht Stullen. Die haben wir alle gegessen.

"Ich bitte dringend, eine Lösung zu finden"

Schon damals richtet sich Kristina Brandt, Leiterin des Erfurter Säuglingsheimes, in einem Appell an Politik und Medien.

Ich bitte deswegen dringend einmal unsere beiden Staaten gegenseitig aufeinander zuzugehen, um mit den örtlichen Organen der Jugendhilfe ein Rechtshilfeabkommen abzuschließen, um für diese Kinder eine Lösung zu finden.

Kristina Brandt erinnert sich. Die zurückgelassenen Kinder füllen auch ihre Einrichtung innerhalb weniger Wochen. Hier waren es allein zwölf Kinder, die abgegeben wurden. "Ich war fassungslos. Und meine ganzen Kollegen auch. Man hat sowas nicht für möglich gehalten. Es müssen Hunderte gewesen sein im ganzen DDR-Gebiet. Es sind ja auch in Erfurt andere Heime gewesen, mit denen wir kooperiert haben. Da waren ja schon Schulkinder dabei, die dort abgegeben wurden, wo versprochen wurde: Nächste Woche hole ich dich. Auch Jugendliche. Nichts ist passiert."

Der Bruder durfte mit

Verlassene Kinder Andreas' Mutter ging mit seinem Bruder fort und ließ ihn zurück. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ein besonders schweres Schicksal erleidet Andreas. Auch er wird in einem Erfurter Heim abgegeben. Seine Mutter, die ihn bereits als Baby adoptierte, ging nach Niedersachsen. Seinen Bruder nahm sie mit. Für den Zwölfjährigen aber war in ihrem Leben offenbar kein Platz mehr. "Ich bin ein halbes Jahr hier im Heim und als ich bei meinem Vater war, habe ich erfahren, dass meine Mutter in den Westen gefahren ist mit meinem Bruder. Erst habe ich das nicht geglaubt. Und dann habe ich erst gesehen, dass meine Mutter mir ein Paket geschickt hat und da sah ich die Adresse." Er versucht, sich den Fortgang der Mutter zu erklären.

Ich habe darüber nachgedacht, warum meine Mutter mich alleine gelassen hat. Da überlege ich jeden Tag immer noch, und ich weiß nicht ob es das Richtige ist.

"Ich hole dich nicht ab"

Verlassene Kinder Mutter von Andreas im Interview. Der kleine Bruder sitzt daneben und weint. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Andreas' Mutter kann gefunden werden, in einem Dorf bei Celle. Die Frau wohnt zur Untermiete, ist arbeitslos. Die Reporter wollen damals wissen, was sie bewogen hat, diesen Schritt zu gehen. Als sie der Frau den Hilferuf des Jungen zeigen, sagt sie kalt:

Ja, Andreas, das mache ich aber nicht. Ich hole dich nicht ab. Du weißt auch ganz bestimmt warum. Du wolltest mich ja nicht mehr sehen. Du hast ja zu mir gesagt: Dich will ich nicht sehen in Erfurt. Du brauchst mich überhaupt nicht zu besuchen. Das war ein großes Problem mit Andreas, was schon im Kindergarten anfing. Da wurde mir schon gesagt, dass er bockig ist. In der Schule wurde es nachher viel schlimmer. Da hat er seine Hausaufgaben nicht gemacht und meinte, ich hätte ihm nichts zu sagen.

Der Bruder, der während dieses Interviews neben der Mutter sitzt, kann seine Tränen nicht zurückhalten. Ihm fehlt Andreas. Andreas wird nie wieder bei seiner Mutter und dem kleinen Bruder leben.

Pflegemama: Die goldene Karte

Verlassene Kinder Das Fotoalbum von Thomas' Kindheit beginnt, als er fünf Jahre alt ist. Es zeigt eine glückliche Kindheit. Voll Liebe und Geborgenheit.
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Auch Thomas Metz aus Erfurt nicht. Aber er bekam mit seiner Pflegemutter eine neue Mutter. "Letztendlich ist meine Mutter die goldene Karte in meinem Leben gewesen. Wär meine Mutter nicht dagewesen und hätte mir Gott diese Karte nicht geschenkt, dann wäre ich heute nicht so, wie ich bin." Das Fotoalbum von Thomas' Kindheit beginnt, als er fünf Jahre alt ist. Es zeigt eine glückliche Kindheit. Voll Liebe und Geborgenheit. Seine Pflegemutter hat alles dafür getan. Und Thomas nutzte die Chance. Er studiert, wird Suchttherapeut. Heute hilft er anderen ihren Weg zurück ins Leben zu finden.


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In der DDR zurückgelassene Kinder "Man rechnet nicht damit, dass die Eltern einen einfach zurücklassen"

14. September 2020, 11:30 Uhr

Nach einem Beitrag in der "MDR Zeitreise" über Kinder, die kurz nach dem Mauerfall in der DDR allein zurückgelassen wurden, weil ihre Eltern quasi über Nacht in den Westen gegangen sind, haben viele Zuschriften die Redaktion erreicht. Auch von damals zurückgelassenen Kindern.

Bei einigen unserer Zuschauer haben die Bilder die Erinnerung an die eigene Geschichte wieder sehr präsent werden lassen. So auch bei Jördis Mahanta. Ihre Eltern sind kurz vor dem Mauerfall nach West-Berlin gegangen, ohne die damals 17-jährige Jördis. Auch nach der Grenzöffnung holten sie die Tochter nicht nach. Bis heute versteht Jördis Mahanta nicht, warum.

Sie haben den Beitrag in der MDR Zeitreise über die verlassenen Kinder gesehen und sich daraufhin bei uns gemeldet. Warum?

Jördis Mahanta: Weil mich der Beitrag sehr bewegt hat, weil ich eine ähnliche Geschichte habe. Meine Eltern sind wenige Wochen vor dem Mauerfall in den Westen gegangen. Ich war damals gerade 17 Jahre alt geworden. Ich wusste gar nichts. Sie haben das so erklärt - was auch nachvollziehbar ist -, dass sie mit niemandem darüber reden konnten. Weil sie Angst hatten, dass das vereitelt werden könnte. Das war etwa drei Monate vor dem Mauerfall und das ist vielleicht auch der Unterschied zu den Kindern, die danach verlassen wurden. Da haben die Eltern ja oft gesagt, sie fahren jetzt in den Westen.

Können Sie sich an den Tag erinnern, als Ihre Eltern ausgereist sind?

Ja, ich kann mich da genau daran erinnern. Mein Stiefvater war Hochschullehrer. Und der hatte eine Genehmigung, immer nach West-Berlin ausreisen zu dürfen, wenn er dort Vorlesungen gehalten hat. Und meine Mutter hatte eine Besuchsreise beantragt und die wurde genehmigt. Die sollte drei Tage dauern. Und am dritten Tag abends habe ich gewartet und habe mich gefreut, weil die Eltern ja immer was aus dem Westen mitgebracht haben. Und kurz vor Mitternacht habe ich dann einen Anruf bekommen aus West-Berlin von meiner Mutter, im Hintergrund war Partystimmung. Sie hat mir gesagt, dass sie nun in West-Berlin bleiben, und dass unter dem Bett ein Schlüssel zu einem Schließfach liegt. Das habe ich dann geöffnet und darin lag ein Abschiedsbrief und ein bisschen Bargeld. In dem Brief hatte meine Mutter geschrieben, dass sie sich wünscht, dass ich Flügel bekomme. Ansonsten nur behördliche Dinge.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich war ganz schön schockiert, muss ich sagen. Ich wusste erstmal nicht, was ich machen sollte. Am nächsten Tag habe ich meinen Bruder informiert, der schon erwachsen war und eine eigene Familie hatte. Er hat dann die Erlaubnis bekommen, für mich Vormund zu sein. Dadurch durfte ich alleine wohnen und musste nicht ins Heim. Es hat dann auch nicht lange gedauert, dass ich angerufen wurde von der Staatssicherheit. Dann musste ich zur Polizei und musste Anzeige erstatten gegen meine Eltern. Aber ein Vierteljahr später ging ja dann die große Welle los und die Grenze wurde aufgemacht. Ich bin dann gleich nach West-Berlin gefahren und habe meine Eltern gesucht.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Sie haben die Grenzöffnung wenige Tage später genutzt, sind mit dem Möbelwagen gekommen und haben die Wohnung in Ost-Berlin ausgeräumt, in der ich noch gelebt habe. Das einzige, was sie mir gelassen haben, war mein Kinderzimmer und die Küche. Irgendwie stand es nie zur Debatte, dass ich mitgehe in den Westen. Sie haben mich ja auch in ihre Planung nicht mit einbezogen.

Wie sind Sie klargekommen in den Monaten nach der Grenzöffnung?

Die ersten zwei Jahre waren schlimm. Ich hatte kein Geld, ich hatte nichts zu essen. Ich war aufgeschmissen. Ich wusste nicht, wie man einen Haushalt führt, wie man alleine klarkommt. Ich war damals in der Ausbildung zur Krankenschwester. Das hat dann nicht mehr funktioniert. Irgendwie war es aber auch ein Motor zu zeigen, dass ich es hinkriege. Ich habe dann zweimal studiert und bin heute Kunsttherapeutin in Berlin.

Haben sich Ihre Eltern je bei Ihnen entschuldigt oder die Umstände erklärt?

Das Verhältnis war danach immer schwierig, aber wir haben über all die Jahre Kontakt gehalten. Wir haben nie über die Geschehnisse von damals sprechen können. Meine Mutter hat das immer ganz arg abgewehrt. Das Thema wurde immer totgeschwiegen. Meine Tante hat meine Mutter mal darauf angesprochen und als Antwort bekommen, dass ich ja sowieso gern alleine wohnen wollte und sehr glücklich damit gewesen sei. So wollte meine Mutter das gern sehen.

Wie prägen Sie die Erfahrungen von damals heute noch?

Zum einen geht es mir natürlich immer sehr schnell nahe, wenn ich Beiträge wie in der MDR Zeitreise sehe. Ich glaube auch, dass es etwas mit einem macht, wenn die Eltern einfach weggehen, auch wenn ich schon jugendlich war. Aber ich habe das ja bewusst erlebt und frage mich bis heute, warum sie mich nicht einbezogen haben in ihre Planung. Dieses Gefühl, verlassen zu werden, beeinflusst das Vertrauen zu nahen Menschen ein Leben lang. Damit rechnet man ja nicht, dass Eltern einen einfach zurücklassen. Und dann ärgere ich mich auch immer in Museen oder so. Dort finden die schwierigen Sachen dieser Zeit selten Platz. Im Mauermuseum etwa sieht man nur die traurigen Geschichten aus der DDR-Zeit. Aber die Geschichte nach dem Mauerfall wird immer siegreich und heroisch dargestellt. Das ärgert mich oft, weil die Graustufen nicht gezeigt werden.


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© infos-sachsen / letzte Änderung: - 18.06.2023 - 17:03